Die Berufswahlvorbereitung ist eine Kernaufgabe der Oberstufe. Um diesen Auftrag bestmöglich zu erfüllen, ist die Berücksichtigung der Situation auch ausserhalb der eigenen Organisation wichtig. Gesellschaftstrends, technische Entwicklungen, regionale Besonderheiten, neue Ausbildungsgänge sowie weitere Faktoren sind einem steten Wandel unterzogen und gilt es zu beachten.
Zusätzlich zur zunehmenden Alterung der Schweizer Bevölkerung – bereits heute werden mehr Arbeitskräfte pensioniert als dass junge Qualifizierte in den Arbeitsmarkt einsteigen – flacht die Einwanderung von ausländischen Fachkräften im Kanton St.Gallen voraussichtlich über die Jahre ab. Es ist davon auszugehen, dass der Anteil an Eingewanderten mit tertiärer Ausbildung weiter zunimmt, jener mit höchstens einem Abschluss auf Sekundarstufe II abnimmt. Die Zuwanderung unterliegt u.a. der Aushandlung von politischen Verträgen (z.B. Rahmenabkommen), weshalb die Prognosen in diesem Bereich mit Vorsicht zu betrachten sind.
Lehrbetriebe und Mittelschulen umwerben die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe verstärkt. Eine Folge ist die Beschleunigung des Berufswahlprozesses. Lehrverträge werden früh abgeschlossen, Mittelschulen und Lehrbetriebe machen (noch) aktiver und attraktiver auf ihre Angebote aufmerksam, und letztlich wird dadurch der Druck und insbesondere der Zeitdruck zur Berufs- oder Schulwahlentscheidung auf die Jugendlichen erhöht. Die wichtige Phase des Kennenlernens und des Erkundens von verschiedenen Berufsfeldern wird verkürzt und der Berufswahlentscheid muss früher gefällt werden.
Das lokale/regionale Konzept Berufswahlvorbereitung beschreibt, wie die Schule vor Ort mit diesem Trend zur Beschleunigung des Prozesses umgeht.
Die wenigsten Erziehungsberechtigten kennen das gesamte Spektrum an aktuellen Möglichkeiten des schweizerischen Bildungssystems. In kaum einem anderen Land ist das System der dualen Berufsausbildung so gut ausgebaut wie in der Schweiz. Wer aus seiner eigenen Biografie die Ausbildungswege mit Umsteigemöglichkeiten, die es in der Schweiz gibt, nicht kennt, sieht oft nur einen Weg als einzig erstrebenswerte Option für das eigene Kind. Aber auch Erziehungsberechtigte, die hier zur Schule gegangen sind, haben kaum Überblick über die aktuelle Berufslandschaft und die heutigen Ausbildungs- und Schullaufbahnmöglichkeiten, zumal diese einem steten Wandel unterlegen ist.
Erziehungsberechtigte werden von ihren Kindern als die wichtigsten Berater im Berufswahlprozess angesehen. Daher ist es wichtig, dass sie gut und frühzeitig informiert sind. Dies sicherzustellen, ist auch Aufgabe der Schule.
Im schuleigenen Konzept wird festgelegt, wann und durch wen die Erziehungsberechtigten Informationen zum Bildungssystem und zur Berufswahl des eigenen Kindes erhalten. Denkbar ist eine erste Elterninformation zum Thema Berufsmöglichkeiten bereits in der Primarschule.
Just in jener Lebensphase, in der die Jugendlichen ihren ersten Berufswahlentscheid fällen sollen, erleben sie körperliche und seelische Veränderungen: Die Pubertät kann nicht selten das Leben auf den Kopf stellen. In dieser Phase kann neben dem Elternhaus auch das weitere soziale Umfeld verstärkt auf die Jugendlichen einwirken. Freundinnen und Freunde, Bezugspersonen aus Vereinen oder der örtlichen Jugendarbeit können als wertvolle Wegbegleiterinnen und -begleiter wirken.
Der Kanton St.Gallen ist ein Ring- und Grenzkanton mit stark unterschiedlich geprägten Regionen. Verschiedenheiten bestehen unter anderem bezüglich Wirtschaftssektoren, Wirtschaftsraum, Schul- und Lehrstellenangebot und Grenznähe zu anderen Kantonen oder zum Ausland. Alle diese Faktoren haben einen Einfluss auf den Berufswahlprozess in der Oberstufe.
Es wird empfohlen, sich vor dem Erstellen des schuleigenen Konzepts Gedanken zur Wirtschaftsregion zu machen, damit die regionalen Besonderheiten ausreichend berücksichtigt und entsprechend Schwerpunkte gesetzt werden können.
Ungeachtet der politischen Grenzen – sei es zwischen den Kantonen oder den Staaten – haben sich die Wirtschaftsräume entwickelt. So kann es sinnvoll und nötig sein, bei der Analyse der regionalen Voraussetzungen bezüglich Berufswahl den Blick auch über die Kantons- oder Landesgrenze zu richten.
Oft laden Gewerbe- und Industrieverbände die Schülerinnen und Schüler bzw. die Oberstufenklassen zu Berufsinformationsanlässen vor Ort. Ebenso gibt es Informationsanlässe der Mittelschule. Im Berufswahlkonzept definieren die Schulen den Umgang mit diesen meist sehr attraktiven Einladungen, insbesondere wenn das Angebot die zeitlichen Möglichkeiten der Schulen übertrifft. Ein Gespräch mit den Anbietern kann dazu beitragen, Angebot und Nachfrage möglichst optimal aufeinander auszurichten und das ganze Spektrum an beruflichen Möglichkeiten abzudecken.
Gesellschaftliche und technische Entwicklungen führen zu Veränderungen bei den Berufen. Planungs- und Produktionsprozesse entwickeln sich rasch und damit verbunden sind veränderte und oft höhere Anforderungen an die Arbeitskräfte. Das kann bedeuten, dass das Berufsbild, welches zum Berufswahlentscheid geführt hat, nach Abschluss der Lehre bereits komplett anders aussieht. Die digitale Transformation findet in sämtlichen Berufsfeldern statt, die einzelnen Berufe sind jedoch unterschiedlich stark davon betroffen.
Der Trend hin zu höheren Ausbildungsniveaus hält an und hat zur Folge, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler steigt, die den gestiegenen Anforderungen nicht mehr gewachsen sind und in der Berufswelt keinen Arbeitsplatz mehr finden.
In ihrem Berufswahlkonzept definieren die Schulen jene Jugendlichen, welche eine besondere Unterstützung im Berufswahlprozess benötigen, als wichtige Zielgruppe. Sie legen fest, wie diesen Jugendlichen der Kontakt zur Berufswelt und zu passenden Lehrbetrieben erleichtert werden kann und wie die Unterstützungsangebote seitens Berufs- und Laufbahnberatung (BLB) und anderer Organisationen genutzt werden.
Beim Berufswahlentscheid soll neben der Passung der persönlichen Fähigkeiten und Interessen mit dem angestrebten Beruf auch dessen mögliche Entwicklung in der Zukunft berücksichtigt werden: Gibt es den Beruf in zehn Jahren noch? Welche Weiterentwicklungen zeichnen sich ab? Welche verwandten Berufe gibt es, die sich für einen Umstieg zu einem späteren Zeitpunkt anbieten würden?
Der rasche Wandel der Berufsbilder stellt für die Klassenlehrpersonen der Oberstufe eine Herausforderung dar: Sie sollen die Jugendlichen in ihrem individuellen Berufswahlprozess beraten und brauchen dazu aktuelle Kenntnisse über die verschiedenen Ausbildungswege. Das schuleigene Berufswahlkonzept soll Wege aufzeigen, wie sich die Lehrpersonen stets von neuem auf den aktuellen Stand bringen können, um ihre Schülerinnen und Schüler im Prozess der Berufswahl kompetent begleiten und beraten zu können. Es beschreibt die Unterstützung und die Ressourcen, die dazu zur Verfügung stehen.
Berufs- oder Schulwahl in der Oberstufe bedeutet Wahl für eine erste berufliche oder schulische Grundausbildung. Die Zeit vom Berufseinstieg bis zur Pensionierung beträgt mehrere Jahrzehnte – viel Zeit, um die eigenen Lebensziele, -formen und -inhalte mehrfach anzupassen und die berufliche Situation entsprechend auszurichten. Wer heute in die Volksschule geht, wird auf seinem Lebensweg bis zum Pensionsalter mehrere Berufe ausüben, wird sich im gewählten Berufsfeld weiterbilden und neue Tätigkeiten übernehmen oder sich neu orientieren und andere berufliche Richtungen einschlagen. Das Angebot an Aus- und Weiterbildungen ist gross und ständig werden neue Studiengänge entwickelt – und damit auch die Möglichkeit, sich vertikal oder horizontal in der Berufslandschaft zu bewegen.
Wissen ist stets und überall verfügbar: Das Internet liefert Daten und Hintergründe in Sekundenschnelle. Formeln und Jahreszahlen auswendig zu lernen, ist daher heute nicht mehr im selben Masse wie früher nötig.
Gestiegen ist hingegen der Wert der überfachlichen Kompetenzen, wie sie im Lehrplan Volksschule beschrieben sind :
- Personale Kompetenzen (Selbstreflexion, Selbstständigkeit und Eigenständigkeit)
- Soziale Kompetenzen (Dialog- und Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit und Umgang mit Vielfalt)
- Methodische Kompetenzen (Sprachfähigkeit, Informationen nutzen und Aufgaben/Probleme lösen)
Die überfachlichen Kompetenzen ergänzen die fachlichen Kompetenzen sowie die grundlegenden schulischen Fähigkeiten wie lesen, schreiben, rechnen. Alle drei Ebenen sind für die berufliche Entwicklung gleichermassen von Bedeutung.
Schülerinnen und Schüler, die das Potenzial für eine weiterführende Schule haben, stehen vor der Entscheidung, ob sie eine Berufslehre mit Berufsmaturität machen oder die Mittelschule absolvieren sollen. Beide Angebotsrichtungen bewerben die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe. Während die Mittelschule zu Informationsanlässen lädt, organisieren die Betriebe und Verbände attraktive Berufs- und Betriebserkundungsanlässe. Da der Übertritt ins Gymnasium bereits nach der 2. Sekundarklasse erfolgen kann, verschiebt dies den anstehenden Laufbahnentscheid um ein Jahr nach vorne.
Es ist die Aufgabe der Volksschule, allen Jugendlichen das volle Spektrum an beruflichen und schulischen Möglichkeiten gleichwertig bekannt zu machen.
Vor ihrem Entscheid sollen sich die Jugendlichen ein Bild über die vielfältigen Ausbildungsmöglichkeiten gemacht haben. Im eigenen Berufswahlkonzept legen die Oberstufen dazu die Regelungen fest. Grundsätzlich sollen alle Schülerinnen und Schüler auf Berufserkundung gehen – auch angehende Mittelschülerinnen und –schüler. Umgekehrt sollen alle Schülerinnen und Schüler, welche das Potenzial für weiterführende Schulen haben, auch zum Besuch des entsprechenden Informationsanlasses ermuntert werden.
Die Begleitung von Oberstufenschülerinnen und -schülern in der Phase der Berufswahl ist auch deshalb eine grosse Herausforderung, da der berufliche Werdegang der Lehrpersonen in der Regel über eine Mittelschule führte. Der eigene Erfahrungshintergrund umfasst meist den schulischen Weg und nicht die Berufslehre. So kann es eine Herausforderung für die Lehrperson darstellen, alle Schülerinnen und Schüler im Berufswahlprozess zu begleiten und zu beraten, insbesondere auch jene, die eine berufliche Grundbildung anstreben.