Das Amt für Justizvollzug führt in Kooperation mit der Beratungsstelle für Familien St.Gallen ein Modellversuch zur Unterstützung von Angehörigen durch. Es verfolgt das Ziel, schädlichen Auswirkungen einer Inhaftierung entgegenzuwirken bzw. diese zu vermeiden.
Ausgangslage
Auftrag des Justizvollzugs ist die Förderung der Wiedereingliederung von straffällig gewordenen Menschen und die Rückfallverhinderung. Angehörige gelten im Resozialisierungsprozess als wichtige Ressource. Gleichzeitig wurden sie bislang im Justizvollzug wenig beachtet, obwohl sie von der Inhaftierung mitbetroffen sind. Durch die Inhaftierung können sich für Angehörigen finanzielle, psychische und soziale Belastungen ergeben. Diese Belastungen sind vom staatlichen System nicht beabsichtigt. Vielmehr verpflichtet Art. 75 des Strafgesetzbuches den Justizvollzug, den schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken.
Modellversuch Angehörigenberatung
Mit dem Modellversuch Angehörigenberatung sollen Angehörige von inhaftierten Personen so früh als möglich aufgefangen und unterstützt werden. Hierfür erhalten Angehörige kostenlos eine oder mehrere Beratung(en) bei der Beratungsstelle für Familien, einer unabhängigen Beratungsstelle in St.Gallen. Anhand einer wissenschaftlichen Auswertung durch die Universität St.Gallen und die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) soll einerseits die Wirkung dieser Intervention untersucht werden, um herauszufinden, ob ein solches Angebot überhaupt auf Nachfrage stösst und tatsächlich die erwartete Unterstützung und Verbesserung der Lebenssituation bringt. Andererseits soll eine Prozessevaluation aufzeigen, welche Faktoren eine nachhaltige Implementierung der Beratungs-Intervention begünstigen bzw. hemmen und wie eine mögliche Implementation in anderen Kantonen bestmöglich zu gestalten ist. Das Projekt wurde vom Bundesamt für Justiz (BJ) als Modellversuch anerkannt. Der Modellversuch dauert (mindestens) zwei Jahre und hat am 01.01.2024 gestartet.
Versuchskonzept
Der Modellversuch knüpft an die Inhaftierung einer straffällig gewordenen Person in einem St.Gallischen Gefängnis an. Im Rahmen des Eintritts erheben die Mitarbeitenden der Gefängnisse die nötigen Informationen, um die Anwendbarkeit des Modellversuchs zu bestimmen. Sind die Voraussetzungen erfüllt, gibt die inhaftierte Person an, mit welchen Angehörigenperson(en) die Beratungsstelle in Kontakt treten und eine Beratung anbieten darf. Diese Informationen werden via Amt für Justizvollzug an die Beratungsstelle für Familien weitergeleitet. Gleichzeitig erhebt das Gefängnispersonal bei der inhaftierten Person mittels Fragebogen Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Verhaftung und der aktuellen Lebenssituation.
Die Beratungsstelle nimmt in der Folge mit der Angehörigenperson Kontakt auf. Nach erfolgreicher Terminvereinbarung führt die Beratungsstelle mit der Angehörigenperson je nach Bedarf und Wunsch eine oder mehrere Beratungen durch. Die Beratungen können physisch vor Ort, telefonisch oder auch hybrid erfolgen. Inhaltlich soll die Beratung für alle Themen im Zusammenhang mit der aktuellen Belastungssituation durch die Inhaftierung offenstehen. Ist die Angehörigenperson bereit, freiwillig an der wissenschaftlichen Auswertung teilzunehmen, gibt die Beratende Person im Anschluss an jede Beratung zu Handen des Amts für Justizvollzugs ihre fachliche Einschätzung zu den Beratungsthemen ab und dokumentiert, welche Fragen und Bedürfnisse die Angehörigen hatten und welche Unterstützung sie von der Beratungsstelle erhielten. Die Angehörigenperson wird nach Abschluss der Beratung durch die ZHAW interviewt bzw. befragt.
Unabhängig der Tätigkeit der Beratungsstelle tätigt das Personal des Gefängnisses bei Entlassung oder Austritt/Versetzung der inhaftierten Person bzw. spätestens nach sechs Monaten mittels Fragebogen erneut Erhebungen bei der inhaftierten Person, insb. zum allgemeinen Belastungsempfinden, Auswirkungen der Inhaftierung auf ihre (physische und körperliche) Gesundheit, Alltagsbewältigung und soziale Umfeld, zur Häufigkeit und Art der Kontakte zur Aussenwelt während der Haftdauer sowie zu den Wünschen.
Zielklientel
Zielgruppe der Beratung sind Angehörige einer inhaftierten Person, welche von der inhaftierten Person für die Kontaktaufnahme bzw. ein Beratungsangebot ausgewählt wurden. Der inhaftierten Person steht es frei, sich auf eine oder mehrere Angehörigen festzulegen, welche vom Beratungsangebot Gebrauch machen können. Auch Angehörige können sich selbständig bei der Beratungsstelle melden und das kostenlose Beratungsangebot in Anspruch zu nehmen. Als «Angehörige» gelten – aus der Perspektive der inhaftierten Person – jede der inhaftierten Person nahestehende Bezugsperson.
Ein- und Ausschlusskriterien
Voraussetzung für die Teilnahme am Modellversuch und an der wissenschaftlichen Auswertung ist das Erfüllen der Einschlusskriterien bzw. das Fehlen von Ausschlussgründen sowie die Bereitschaft der inhaftierten Person (und Angehörigenperson) zur freiwilligen Teilnahme.
Einschlusskriterien:
- Inhaftierung in einem St.Gallischen Gefängnis
- Neueintritt (infolge Verhaftung oder selbständiger Strafantritt)
- Kein Ausschlussgrund vorhanden
- Freiwilligkeit der Teilnahme
- Schweigepflichtsentbindung unterzeichnet
Ausschlussgründe:
- die inhaftierte Person ist minderjährig
- Verständigungsmöglichkeit mit der inhaftierten Person ist nicht möglich
- die inhaftierte Person hat keine Angehörigen (in der Schweiz)
- die Angehörige(n) hat/haben keinen festen Wohnsitz in der Schweiz
- die Angehörige(n) der inhaftierten Person ist/sind selbst inhaftiert
- die Haftart ist nicht Polizeihaft, Untersuchungshaft, Sicherheitshaft oder geschlossener Strafvollzug
- die inhaftierte Person möchte nicht teilnehmen.
Noch offene Fragen?
Barbara Reifler
lic.iur.
Amtsleiterin