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"Welcher Mann denkt heute daran[,] für einen Kaninchenstall eine Baubewilligung einzuholen", wollte der Rekurrent im Winter 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, vom zuständigen Regierungsrat wissen. Als "Ernährer einer 5köpfigen Familie" müsse er den "kriegsbedingten Versorgungsschwierigkeiten" etwas entgegensetzen. Der Fall war tatsächlich etwas vertrackt: In sanitätspolizeilicher Hinsicht war gegen die Ställe nichts auszusetzen. Von einer Geruchsbelästigung könne keine Rede sein, bestätigte sogar der Bezirksarzt. Die Kaninchen würden sehr sauber gehalten. Trotzdem beharrten die Gemeindebehörden von Rorschacherberg, wo sich der Fall abspielte, auf einen Rückbau der Ställe. Sie begründeten ihren Entscheid damit, dass diese Kleinbauten widerrechtlich erstellt worden seien und dass Gebäude- und Grenzabstände nicht eingehalten würden. Ausserdem berichteten sie davon, dass die Kinder des Rekurrenten auf fremden Wiesen Kaninchenfutter entwendet hätten. Der Regierungsrat stellte sich aus formalrechtlichen Überlegungen schliesslich hinter die Gemeinde und stützte deren Ansinnen. Immerhin mahnte er aber an, dass die Gemeindebehörden in anderen, ähnlich gelagerten Fällen gleich restriktiv vorgehen sollten. 

Mit vielen Verboten hatten sich die Kantonsbehörden und der Regierungsrat als Rekursinstanz im Lauf der Zeit auseinanderzusetzen. Bauverbote, Alkohol- und Wirtshausverbote, Fahr-, Reit- und Parkverbote, Tierhalte- und Jagdverbote oder Nachtarbeitsverbote gehörten zu den ständig wiederkehrenden Geschäften. 1965 beschwerte sich beispielsweise ein Transporteur gegen das Sonntags- und Nachtfahrverbot und ersuchte um eine Ausnahmebewilligung für Milch- und Rahmtransporte – Kühe geben ja schliesslich auch am Wochenende Milch. 

Daneben finden sich in den Akten aber auch eher unerwartete Verbote, so etwa ein "Verbot der Vertreibung von Kormoranen" oder ein Surfverbot auf dem Walensee. Und in einem Fall aus dem Jahr 1967 legte der Bahnhofwirt von Rorschach beim Regierungsrat und später sogar beim Bundesrat Rekurs ein, weil die Gesundheitskommission von Rorschach ihm ein "Verbot des Grillierens und Verkaufens von Würsten im Freien" auferlegt hatte. Der Bundesrat schützte das von den St.Galler Behörden ausgesprochene Verbot, und der Rekurs wurde kostenpflichtig abgewiesen. Eher skurril mutet auch die Geschichte über jenen St.Galler Blumenhändler an, der 1962 auf offener Strasse Alpenrosen feilbot. Für letztere gab es im Kanton St.Gallen ein Pflückverbot, nicht aber im Kanton Uri, woher der Händler angab, die Blumen erstanden zu haben. Die Rechtslage abzuklären, oblag schliesslich dem St.Galler Volkswirtschaftsdepartement. 

Räucherstäbchen, Festivitäten ohne definiertes Ende und kontrollierte Lautstärke und nicht zuletzt eine politische Manifestation von Atomwaffengegnern befürchtete der Gemeinderat von Gaiserwald, als eine Gruppe von Hochschulstudenten im Mai 1970 ein "Sitter-in" auf der historischen Holzbrücke über die Sitter in der Spisegg organisieren wollte. Mit Hinweis auf feuer- und strassenpolizeiliche Risiken verbot er die Veranstaltung. Die Organisatoren wichen auf ein anderes Terrain aus, legten aber trotzdem fristgerecht Rekurs beim Regierungsrat ein. Dieser setzte sich in einer grundsätzlichen Erörterung über 13 Protokollseiten hinweg mit dem Fall auseinander und gab dem Gemeinderat schliesslich in allen Punkten recht. 

Schweizweites Medienecho erzeugte die nächste Geschichte, und auch sie spielt sich an der Sitter ab. "Wer fürchtet sich vor nackten Menschen?" titelte die National-Zeitung in Basel und spielte damit auf das neue "Nudistenzentrum" am Sitterstrand in Häggenschwil an, von dem im folgenden berichtet wird: 

Vom Nacktbadezentrum zum Feuerwehr-Ausbildungszentrum: Schicksal einer Liegenschaft
Die Wogen gingen hoch in Häggenschwil, als Mitte der 1960er Jahre auf dem bis anhin landwirtschaftlich genutzten Grundstück Hiltern (heute: Hilteren) unterhalb der Ruine Ramschwag ein Nacktbade-, Freizeit- und Ferienzentrum errichtet werden sollte: "Was in einzelnen Nacktkulturzentren der Schweiz und des Auslandes üblich sein mag, ist der traditionsgebundenen ländlichen Bevölkerung der Gemeinde Häggenschwil wesensfremd und bedeutet für sie einen Affront", befand der Regierungsrat 1968 und machte deutlich: "Bereits die Tatsache, dass nackte Menschen in die Sicht der Öffentlichkeit treten, stellt unter den gegebenen lokalen Verhältnissen einen Verstoss gegen die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit dar." Die Passagen finden sich einem Regierungsratsbeschluss, welcher sich mit einem von der Gemeinde Häggenschwil ausgesprochenen "Verbot eines Nacktkulturzentrums" auseinandersetzte. Der Regierungsrat gab der Gemeinde Recht, allerdings nur beschränkt. Er befand: "Das Nacktgehen auf der Liegenschaft Hiltern ist verboten, soweit es von der Öffentlichkeit eingesehen werden kann."

Zur Klarstellung, woher die nackten Menschen gesehen werden und Anstoss erregen könnten, liegt den Akten ein Situationsplan bei. Grün schraffiert ist das vorgesehene "Nacktkulturgelände" unten am Fluss, gelb markiert sind die öffentlichen Wege und mit einem grünen Kreuz versehen diejenigen Punkte, von denen aus man das Gelände einsehen konnte – wenn man wollte. Schliesslich, so hielt der Rechtsdienst des Polizeidepartements fest, könne "die blosse Tatsache, dass sich an der Sitter Nudisten aufhalten", nicht als anstössig angesehen werden. "Ebenso kann derjenige, der zum Fernrohr greift, nicht geltend machen, er fühle sich belästigt."

Situationsplan

Situationsplan um das 'Nacktkulturgelände' bei Hilteren, Häggenschwil; StASG A 045/1642
Situationsplan um das 'Nacktkulturgelände' bei Hilteren, Häggenschwil; StASG A 045/1642

Mit allen Mitteln versuchte die Häggenschwiler Bevölkerung, den Betrieb dieses als anstössig empfundenen Freizeitzentrums am idyllischen Sitterstrand zu verhindern. An der Bettagsversammlung vom 18. September 1966 verabschiedeten 146 "Männer und Jungmänner, Frauen und Töchter" der Gemeinde eine Resolution, in der sie festhielten, das geplante "Nudistenzentrum" stelle "eine psychische Immission schwerster Art" dar, sei eine "rücksichtslose Verletzung" der "sittlich-religiösen Weltanschauung", ein "Schandmal für Häggenschwil" und eine "Eiterbeule", die aufgestochen werden müsse. Unbekannte Vandalen – einige Quellen sprechen von aufgestachelten Jugendlichen des Dorfes – zerstörten 200 Jungtannen, die als Sichtschutz angepflanzt worden waren, in einer Störaktion wurden im Dorf sämtliche Parkplätze belegt, so dass die Erholungsuchenden nicht anreisen konnten, und auch mit einer Plakataktion entlang der Zufahrtsstrasse wurden die "Lichtleute" angepöbelt. Sämtliche Gemeinde-, Schul-, Orts- und Kirchenverwaltungsräte lehnten die Errichtung des öffentlichen Nacktbades und Freizeitzentrums auf dem fraglichen Gelände in einem gemeinsamen Schreiben einmütig und "energisch" ab. Überhaupt war die Gemeinde in ihrem Vorgehen nicht zimperlich. Über Jahrzehnte hinweg stritt sie sich mit den Eigentümern der Liegenschaft über die Klassifizierung der Zufahrtsstrasse, verfügte ein Fahrverbot, verhängte eine Bausperre und beschlagnahmte Baumaterial, das zur Errichtung von Sichtschutz- und Abgrenzungszäunen gedacht war. Einmal wurden auch in den Boden eingelassene Betonröhren, die zur Errichtung einer Einfriedung hätten dienen sollen, auf polizeiliche Anordnung samt und sonders wieder ausgegraben. Auch sonst versuchte die Gemeinde den Betrieb mit immer neuen Auflagen sowie mit der Änderung des Baureglementes und des Zonenplanes zu verhindern.

Befürworter wie Gegner des Zentrums meldeten sich bei verschiedenen Regierungsräten zu Wort und versuchten, diese für ihre Meinung einzunehmen. Die Interessen der Sportfischer, der Familien auf dem Sonntagsspaziergang oder der St.Galler Schulklassen auf Exkursion zur Ruine Ramschwag hatten die Vorsteher des Polizeidepartements, des Bau- und des Erziehungsdepartements in Erwägung zu ziehen. Letzterer wurde schliesslich auch mit dem kopierten Schreiben eines kritischen Mitglieds der "Organisation Naturiste Suisse" bedient, der von eigenen unliebsamen Erfahrungen berichtete: "Mit zunehmendem Alter unserer Töchter wurde die sogenannte Aufklärung doch zuviel, und der Naturismus zu nackt." 

Allen Widerstandes zum Trotz scheint der Betrieb des Freizeitzentrums über einige Jahre hinweg zumindest im Sommer recht rege gewesen zu sein. Laut offiziellen Angaben des Regierungsrates waren es an schönen Wochenenden zwischen fünfzig und hundert Personenwagen, welche die schmale und teils steile Strasse zum Grundstück hin befuhren. In einer Kurzbeschreibung der Naturisten-Zeitschrift "die neue zeit" heisst es in konsequenter Kleinschreibung, das Zentrum sei "[…] ein wahres paradies für die ideale des naturismus. alle voraussetzungen für ein gesundes, erholsames leben ohne textilien sind hier gegeben. sehr mildes klima, maximale besonnung, eine wunderbare ozonreiche [sic!] luft, durch den das gelände umgebenden laub- und nadelholzwald, der zugleich als sichtschutz dient. als abschluss die sitter, die heute wieder als sehr sauberer fluss bezeichnet werden darf, tummeln sich doch darin die schönsten forellen." Das Gelände verfüge, so die Werbebotschaft weiter, über "ein kleines bassin, eine mit sonnenenergie gespiesene dusche, volleyball-, tischtennis-, kinder-spielplatz und 4 doppelzimmer zum übernachten." Ausserdem sei ein "heimeliger aufenthaltsraum" vorhanden. Weiter ist von Ausbauplänen die Rede. Ein Badeteich, zusätzliche Sport- und Spielplätze, ein Parkplatz, eine Sauna sowie eine "biologische garten- und obstanlage" sollten errichtet werden. 

Diese Pläne wurden jedoch nie umgesetzt. Noch 1981 lehnte der St.Galler Regierungsrat einen Ausbau der Zufahrtsstrasse ab. Mit Hinweis auf Natur- und Umweltschutz sowie den Grünzonenplan der Gemeinde Häggenschwil bezeichnete er das Gelände als 'malerische Gegend', auf der es verunstaltend wirken würde, wenn Autos in grösserem Ausmass parkiert wären. 

Heute ist nichts mehr von dieser so gepriesenen 'malerischen Gegend' zu sehen. Das Militär hat die Liegenschaft als Teil des Truppenübungsplatzes Bernhardzell übernommen und darauf eine Trümmerpiste und ein Übungsdorf mit gut ausgebauter Zufahrtsstrasse errichtet. Sucht man das Gelände auf "google maps", so weist es heute als Folge dieser militärischen Nutzung Ähnlichkeiten mit einem zerbombten Dorf in einem Kriegsgebiet auf. Laut neusten Plänen wird die einst derart umstrittene Liegenschaft bald einem erweiterten Zweck zugeführt. Auf ihm wird ein Teil des neuen Ostschweizer Feuerwehr-Ausbildungszentrums entstehen, das gemäss derzeitigem Projektstand 2016 in Betrieb genommen werden soll. 

Signaturen, Quellen:

StASG, A 001/21 sowie KA R.10 B 2
StASG, A 017/46.0796
StASG, A 097/058
StASG, A 045/1642
StASG, A 071/1.49.07
StASG, A 083/0419

http://www.hochbau.sg.ch/home/wettbewerbe/ofa.html; Ostschweizer Feuerwehr-Ausbildungszentrum: Wasser marsch, in: Tagblatt Online, 16. Januar 2013 

Regula Zürcher, Dr. phil., Staatsarchiv St.Gallen

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