Logo Kanton St.Gallen

Freiwillige Armenpflege bzw. Fürsorgearbeit verschiedenster Art leisteten zu Beginn des 20.Jahrhunderts rund 1'000 Frauenvereine in der Schweiz. Sie verfügten über ein Jahresbudget von insgesamt Fr. 840'000. Es gab Verbände mit und ohne konfessionelle Bindung. So schlossen sich beispielsweise freisinnige Frauenvereinigungen zusammen. Diese wollten u.a. Frauen zur Selbstständigkeit verhelfen und dass sie eine existentielle Grundlage auch ohne Heirat erreichen konnten. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs hatten Frauenvereine eigenständig gearbeitet und kaum Kenntnis von der Tätigkeit der anderen Vereinigungen. Der Krieg förderte die Zusammengehörigkeit. In grossen Zentren wurden die Frauenvereine zu "Zentralen Frauenhilfen" zusammengeschlossen. Es entwickelten sich Stellen mit Sekretariaten und zugleich mit Lokalen, in denen sich Frauen unterschiedlicher sozialer Schichten, Vereine und Berufe trafen. 

Erste Vorsitzende der Zentralen Frauenhilfe in St.Gallen wurde Frida Imboden-Kaiser. Sie hatte als eine der ersten Frauen die Kantonsschule St.Gallen abgeschlossen. Anschliessend folgte ein Medizinstudium in Bern und Genf. Nach ihrer Arbeit in der Kinderabteilung des Kantonsspitals St.Gallen gründete sie den "Verein für Säuglingsfürsorge". Dort waren Frauen der höheren Gesellschaft tätig. Einen Namen machte sich Imboden-Kaiser als Gründerin und Leiterin des Ostschweizer Säuglingsheims. Das Spital stand für kranke und vernachlässigte Kleinkinder offen, und es wurden Kurse für eine ordnungsgemässe Säuglingspflege angeboten. Ein zusätzlicher Verdienst geht auf die Senkung der Säuglingssterblichkeit von 18.2% (1904) auf 6.7% (1924) in der Stadt St.Gallen zurück.

Porträt von Frida Imboden-Kaiser, sine dato (StASG Ay 215)

Mit der Generalmobilmachung am 5. August 1914 kam es zum Aufruf von Imboden-Kaiser, und es vereinigten sich 25 Frauenvereine, deren Tätigkeiten durch die neugegründete Zentrale Frauenhilfe koordiniert wurden. Die Zentrale Frauenhilfe arbeitete in den Abteilungen "Bekleidungsfragen" und "Ernährung", um so den eingerückten Soldaten im Ersten Weltkrieg und der Zivilbevölkerung Unterstützung zu bieten. Imboden-Kaiser verhandelte mit dem Vorsitzenden des Eidgenössischen Militärdepartements, Bundesrat Decoppet, und liess 1914 mehrere tausend meterlange Stoffe der Landesausstellung von Bern nach St.Gallen bringen, um sie zu Schlafsäcken für Soldaten verarbeiten zu lassen. Dieses Projekt verschaffte arbeitslosen Frauen für mehrere Wochen eine Beschäftigung. Der Bund wurde aktiv um Aufträge gebeten, um stellenlose Frauen in Arbeit – grösstenteils Heimarbeit - zu bringen. 

Die erste Präsidentin der "Union für Frauenbestrebungen", Anna Dück-Tobler, beschäftigte neben dem Frauenstimmrecht auch die Berufsberatung junger Frauen und wandte sich dafür an die Zentrale Frauenhilfe. Ab 1916 entstand die erste Berufsberatungsstelle für Mädchen und Frauen in St.Gallen. Der Einbruch des Exports in der Stickereiindustrie hatte viele Arbeiterinnen betroffen. Hier bot die Berufsberatungsstelle Unterstützung. Sie gab Auskunft über Berufe, vermittelte Lehrstellen oder Arbeit im Welschland. Wichtig war es den Berufsberaterinnen, die Mütter und Töchter auf eine gründliche und solide Ausbildung und auf "Dienstlehrplätze" hinzuweisen, damit die Mädchen sich hauswirtschaftliche Kenntnisse aneigneten, bevor sie in die Fabrikarbeit einstiegen. Nur wenige Mädchen ergriffen die damals modernen Berufsarten wie Gärtnerei, Blumenbinderei, Zahntechnik und Photographie. Gemeinnützig tätige Frauen weiteten mit dem Krieg ihr Angebot aus, um soziale Spannungen und die Härten der Kriegszeit zu mindern. Der "Arbeiterinnenverein St.Gallen" führte etwa Marktkontrollen durch. Dabei gingen Frauen auf die Gemüsemärkte und zwangen Bauern sowie Händler, die Preise zu senken. Sie sprachen auch bei Polizeivorständen vor, um Höchstpreise festzusetzen.

St.Gallen: Säuglingsheim an der Volksbadstrasse, ehemaliges Kinderspital St.Gallen, ca. 1940-1950 (StASG ZMA 18/01.07-09)
Altstätten: Marktgasse mit Kindern, links Bazar Zünd-Zahner, rechts W. Züllig, Konditorei, im Hintergrund evangelische Kirche, 1914 (StASG W 238/03.08-46)
Altstätten: Marktgasse mit Kindern, links Bazar Zünd-Zahner, rechts W. Züllig, Konditorei, im Hintergrund evangelische Kirche, 1914 (StASG W 238/03.08-46)
St.Gallen: Haushaltungsschule, Schülerinnen bei der Gartenarbeit und beim Nähen, 1915 (StASG ZMA 18/01.07- 24)
St.Gallen: Haushaltungsschule, Schülerinnen bei der Gartenarbeit und beim Nähen, 1915 (StASG ZMA 18/01.07- 24)

Bis Kriegsende waren die Frauen verbessert beruflich und hauswirtschaftlich ausgebildet. Gleichzeitig hatten mit Kriegsende viele Frauen ihre Arbeit verloren, da die Kriegsverwaltung die Arbeit einstellte sowie die Wirtschaftskrise Gewerbezweige traf, in denen vorwiegend Frauen beschäftigt waren. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs kam es zum "Aktionskomitee für das Frauenstimmrecht". Im September 1921 wurde die Vorlage kantonal abgelehnt. Einzig die Städte St.Gallen, Rorschach, Rapperswil sowie einzelne Gemeinden (Rheineck, Steinach, Henau) stimmten für das Frauenstimmrecht. Aufgrund der stetigen Öffentlichkeitsarbeit von Arbeiterinnenvereinen und der Union für Frauenbestrebungen wurde in den genannten Städten und Gemeinden positiv über die Vorlage abgestimmt. Nach dem Krieg ging die Arbeit der Zentralen Frauenhilfe unter dem Namen "Frauenzentrale" weiter. In den 1920er Jahren wurde die Fürsorgetätigkeit weiter ausgebaut. 1926 wurde der st.gallischappenzellische Frauentag eingeführt.

 

Quellen


StASG Ay 215 (Ostschweizer Kinderspital: Bildarchiv)
StASG W 238 (Kühne-Comploj, Kurt: Ansichtskartensammlung)
StASG ZMA 18 (Postkartensammlung Staatsarchiv St.Gallen: Regionen und Ortschaften)
Lemmenmeier, Max: Stickereiblüte und Kampf um einen sozialen Staat in Sankt-Galler Geschichte
2003; Niedermann Druck AG, St.Gallen, 2003, Bd. 6, S. 13.
Lendenmann, Herta: Ein innerer Drang zum Handeln - Frida Imboden-Kaiser 1877-1962 in Blütenweiss
bis rabenschwarz - St.Galler Frauen - 200 Porträts; Limmat, Zürich, 2003, S. 216f.
Strub, Elisa: Chronik der Frauenbewegung in der deutschen Schweiz in Vergessene Geschichte -
Illustrierte Chronik der Frauenbewegung 1914-1963; Stämpfli Verlag AG, Bern, 2000, Bd. 1, S. 3, S.
10f, S. 69-72.
Strub, Elisa: Chronik der Frauenbewegung in der deutschen Schweiz pro 1916/17 in Vergessene
Geschichte - Illustrierte Chronik der Frauenbewegung 1914-1963; Stämpfli Verlag AG, Bern, 2000, Bd.
1, S. 148f.
Vincenz, Bettina: Biederfrauen oder Vorkämpferinnen? - Der Schweizerische Verband der
Akademikerinnen (SVA) in der Zwischenkriegszeit; hier + jetzt, Baden, 2011, S. 18-21.
Widmer, Marina: Die Anfänge der Frauenbewegung zwischen Fürsorge und Politik 1880-1930 in Sankt-
Galler Geschichte 2003; Niedermann Druck AG, St.Gallen, 2003, Bd. 7, S. 171, S. 175, S. 179f.
Witzig, Heidi: Stickerfamilien im Rheintal und allein stehende Frauen in der Hauptstadt 1880-1940 in
Sankt-Galler Geschichte 2003; Niedermann Druck AG, St.Gallen, 2003, Bd. 7, S. 157.
Witzig, Heidi: Kriegsalltag und Frauenräume - Aus der Sicht engagierter bürgerlicher und sozialistischer
Frauenvereine im Kanton St.Gallen in Neujahrsblatt des Historischen Vereins des Kantons St.Gallen;
Toggenburger Verlag, Herisau, 2014, Nr. 154, S. 146, S. 151.

Christine Stoy, Staatsarchiv St.Gallen

Noch offene Fragen?

Staatsarchiv Kanton St.Gallen

Regierungsgebäude, Klosterhof 1
9001 St.Gallen

Öffnungszeiten

Lesesaal: Dienstag bis Freitag 8.15-12.00 Uhr, 14.00 -17.15 Uhr

Telefon: Montag bis Freitag 08.15-12.00 Uhr, 14.00-17.15 Uhr

Damit wir uns optimal auf Ihr Anliegen vorbereiten können, bitten wir um eine Voranmeldung.