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Publiziert am 14.02.2022 08:30 im Bereich Allgemein
Porträtbild Milo Rau

Die St.Gallische Kulturstiftung verleiht dem Theater- und Filmregisseur, Kunsttheoretiker und Autor Milo Rau am 17. November 2022 in der Lokremise St.Gallen den Grossen Kulturpreis für seine vielfältigen, international beachteten, bedeutsamen und mutigen Arbeiten. Anlässlich dieser Verleihung findet in der Kunst Halle Sankt Gallen vom 18. November bis 18. Dezember 2022 eine Ausstellung zu seiner filmischen, theatralen und aktivistischen Arbeit statt.

Der Grosse Kulturpreis, welcher von der St.Gallischen Kulturstiftung in der Regel alle drei Jahre verliehen wird, geht dieses Jahr an den international anerkannten und vielseitigen St.Galler Regisseur Milo Rau. In seiner Arbeit verschränkt er Welt und Kunst: Seine Projekte bewegen sich nicht nur stets auf der Höhe der drängendsten Zeitfragen, sie verlassen auch immer wieder die Komfortzone des Kunstbetriebs und gehen an die Brennpunkte globaler Auseinandersetzungen. Sie sind daher Weltkunst im eigentlichsten Wortsinn, was Milo Rau selber als «globalen Realismus» bezeichnet.

Was er damit bezeichnet, lässt sich mit seinem aufsehenerregendsten und bis heute anhaltenden Projekt Kongo Tribunal beschreiben, welches im Jahr 2017 seinen Anfang nahm. In diesem Dokumentarfilmprojekt versammelt Milo Rau in Bukavu 60 Opfer, Täter, Zeugen und Analytiker des Kongokriegs zu einem einzigartigen zivilen Volkstribunal im Ostkongo. Erstmals in der Geschichte dieses zwanzigjährigen Krieges lässt er dort drei Fälle exemplarisch verhandeln. In neueren Projekten arbeitet Rau mit klassischen Stoffen und Formen, wie der Tragödie, der Passion und der Oper. In Orestes in Mossul (2019) probt und spielt Rau die antike Tragödie mitten in den Trümmern der vom Islamischen Staat besetzten irakischen Millionenstadt Mossul. Im Film Das neue Evangelium (2020) wendet er sich dem Matthäus-Evangelium zu und fragt: Was könnte Jesus heute predigen? Und in der Mozart-Oper La Clemenza di Tito (2020) zeigt er den milden Herrscher als Scheinheiligen. Die Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff wird im Zentrum seiner Regiearbeit Wilhelm Tell von Friedrich Schiller am Schauspielhaus Zürich stehen, welches am 23. April 2022 Premiere auf der Pfauenbühne feiern wird.

Zwischen Begeisterung und Polarisierung

Rau beschreibt gesellschaftliche Realitäten, weltumspannende Innenräume der globalen Wirtschaft; ihre Alpträume und Hoffnungen, ihre Unter- und Gegenwelten. Reales wird aus dem Schatten der Dokumente ans Licht der Präsenz gezerrt, unbewusstes Tun zu einem Bewussten und damit moralisch und politisch frag-würdig gemacht. In einem Interview mit Rolf Bossart sagte Rau, dass realistische Kunst ein Zwingen und Würgen der Wirklichkeit sei. Denn für den, der zu träumen wage, sei alles möglich. Der Teufel lasse immer eine Lücke, in die der Künstler hineinkriechen könne.

Raus Arbeiten sind nicht einfach annehmbar, seine Schreckensbilder will man nicht sehen. Oder sie sind wiederum zu schön, als dass man sie ertragen könnte. Er schafft Kunst, die ins Getriebe der Welt eingreift. Trotz des Wissens um die Zweideutigkeit jeder Position und auf die Gefahr hin, sich zu täuschen und andere zu enttäuschen, bezieht Rau Stellung. Seine Arbeiten begeistern und polarisieren.

Milo Raus Arbeiten werden immer wieder international und auch national ausgezeichnet.  (z.B. Das neue Evangelium, Schweizer Filmpreis 2021 für den besten Dokumentarfilm). Neben seinen Arbeiten für Bühne und Film leitet Rau seit 2018 das Theater NTGent in Belgien und ist ein gefragter Kolumnist und Essayist sowie Dozent für Regie, Dramatik und Kulturtheorie an verschiedenen Universitäten und Kunsthochschulen.

Die grosse Auszeichnung seines Heimatkantons

Die St.Galler Kulturstiftung ehrt den Regisseur und Kunsttheoretiker Milo Rau mit dem Grossen Kulturpreis, weil er seit Jahren immer wieder und unerbittlich diese oben beschriebenen Lücken findet, in die er sich voll hineingibt, sich einmischt und seine Finger mitten in die Wunden legt, die erst dann heilen können, wenn der Grund der Verletzung klar ist und sich direkt oder indirekt Betroffene dazu äussern können. Durch sein Einmischen geht er immer wieder ein grosses Wagnis ein. Seine Projekte können verstören, aber auch begeistern und geben Vielem die nötige Klarheit. Sein Mut, seine künstlerische Handschrift, seine Energie und Hartnäckigkeit, aber auch die Vielfalt und Klarheit seiner künstlerischen Mittel sind dem Stiftungsrat eindeutig wert, ihm den Grossen Kulturpreis zu verleihen.

Starke Verbundenheit mit der Stadt St.Gallen

Milo Rau (*1977) besuchte ab 1989 die Schulen in der Stadt St.Gallen. In den späten Achtzigerjahren erhielt er von seinem Grossvater Dino Larese ein Buch mit chinesischen Märchen geschenkt. Dieses weckte sein Interesse an der Welt, am Erzählen von Geschichten, am Theater. Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr wohnte Milo Rau in der Stadt St.Gallen. Er studierte in Paris, Zürich und Berlin Soziologie, Germanistik und Romanistik, u. a. bei Pierre Bourdieu. 1997 unternahm er erste Reportagereisen nach Chiapas und Kuba und war ab 2000 als Autor für die Neue Zürcher Zeitung tätig. Trotz seiner internationalen Karriere ist Rau immer noch mit der Stadt St.Gallen verbunden: Regelmässige Besuche der im St.Galler Quartier Riethüsli wohnhaften Eltern, journalistische Beiträge im Kulturmagazin Saiten, Inszenierung des Projekts City of Change (2010) am Theater St.Gallen sowie auch sein aktuelles Angebot für eine erneute Inszenierung an diesem Haus. Milo Rau ist Vater von zwei Töchtern und lebt in Köln und Zürich.

Preisverleihung und Ausstellung

Die Preisverleihung findet am 17. November 2022 in der Lokremise St.Gallen statt. Anlässlich dieser Verleihung zeigt die Kunst Halle Sankt Gallen vom 18. November bis 18. Dezember 2022 eine Ausstellung zu seiner filmischen, theatralen und aktivistischen Arbeit. 

Projekte von Milo Rau

Von den bislang etwa fünfzig Projekten Milo Raus sind als wichtigste zu nennen: Die letzten Tage der Ceausescus (2009), die Verurteilung und Erschiessung des Ehepaars Ceausescu, Hate Radio (2011), ein Stück über ein ruandisches Völkermord-Radio, Breiviks Erklärung (2012), ein Monolog des norwegischen Rechtsterroristen Anders Behring Breivik, und in Five Easy Pieces (2016) liess Rau die Verbrechen des Kindermörders Marc Dutroux von Kindern nachspielen. Mit einer virtuellen Partei startete er eine Petition für das Ausländerstimmrecht im Stadtparlament von St.Gallen (City of Change, 2010). Mit mehrtägigen Justiz-Spektakeln wie zum Beispiel Die Zürcher Prozesse (2013), mit Anklage der Weltwoche, begründete er ein eigenes Theaterformat.