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Publiziert am 05.11.2020 08:30 im Bereich Allgemein
Kunstwerk aus verschiedenen vermischten Farben

«Bella ciao» ist nicht gleich «Bella ciao». Das Lied ist Sommerhit, ist Liebesmelodie und Zeichen des Widerstands. Genauso vereint jetzt die gleichnamige Ausstellung in der «Vadiana» ganz unterschiedliche Erfahrungsberichte aus der Atelierwohnung des Kantons in Rom. In diesem ungewöhnlichen Jahr zeigen Michèle Breu + Philipp Krauer, Klara Frick + Ewald Frick sowie Juliette Rosset im Kulturraum «S4 Vadiana» Präsenz. Jede und jeder auf seine eigene Art. Und dennoch bekunden sie erstaunlich ähnliche Anliegen und schreiben damit die Geschichte eines Fanals für Freiheit und Gleichheit um ein weiteres Kapitel fort.

Gäste sind herzlich willkommen, und für gewöhnlich ist das Wohnatelier in der Via dei Latini in Rom ein offenes Haus voller Leben. Alle paar Monate erhält es eine neue Bewohnerschaft, die sich hier einen Freiraum für ihr künstlerisches Vorhaben schafft. Doch die Aufenthalte mussten dieses Jahr pandemiebedingt abgebrochen oder konnten nicht angetreten werden. Die Wohnung in Rom blieb leer und die «Normalität» musste pausieren. Aber die Kunst schläft nicht, was fünf Kunstschaffende eindrucksvoll in der Ausstellung «Bella ciao» in der Kantonsbibliothek Vadiana beweisen.

Italianità im Kulturraum «S4 Vadiana»

Die Ausstellung gehört zum «Kulturraum S4», der um den Säntis zieht. Zu diesem Kulturraum gesellte sich 2019 erstmals das kleinere und örtlich definierte Ausstellungsformat «S4 Vadiana». Mit der aktuellen zweiten Ausstellung verleiht die Abteilung Kulturförderung des Amtes für Kultur dem Förderwerkzeug Atelierwohnung erneut Sichtbarkeit. Der Ausstellungssaal der im Stil der italienischen Renaissance erbauten Bibliothek Vadiana bietet das passende Ambiente mit ein bisschen historischer Italianità, um ausgewählte Vorhaben der Atelierstipendiatinnen und -stipendiaten aus Rom vorzustellen.

Hier geben Künstlerinnen und Künstler Einblick in die Arbeiten, die sie während und nach dem Aufenthalt in Rom geschaffen haben. Aber auch für den Ausstellungsort entwickelte oder modifizierten Arbeiten sind zu sehen und verleihen der altehrwürdigen Bibliothek eine erfrischende Brise.

Die Ausstellenden:

Google mal Feminismus

Wer nicht vorkommt in der Geschichtsschreibung, der existiert eben auch nicht. Mit diesem Befund sind Michèle Breu (*1985) und Philipp Krauer (*1987) von März bis Mai 2018 in Rom auf Spurensuche gegangen und bald auf die Kunstfigur der Schweizer Archäologin Tina Paradiso gestossen. Sie ist eine moderne Frau im Rom des 21. Jahrhunderts, produziert wie ihre männlichen Kollegen teilweise Grosses, aber auch Mittelmässiges und beeinflusst mit ihrer Arbeit das Geschichtsdenken ihrer Zeit. Und genau hier, wo Erinnerungs- und Gedächtniskultur einen hohen Stellenwert geniessen, da werden die Symptome einer männlich geprägten Geschichte besonders sichtbar. Denn bedeutsame Frauen haben die Tendenz, von der männlich dominierten und auf Männer fixierte Geschichtsschreibung vergessen und unsichtbar gemacht zu werden.

Und das lässt die fiktive Tochter des berühmten Archäologen Tom Paradise zusammen mit Michèle Breu und Philipp Krauer nicht auf sich beruhen. In der Ewigen Stadt graben sie während drei Monaten in den Schichten der Geschichte, legen diese über Jahrhunderte entstandenen Unverhältnismässigkeit der Geschlechterverhältnisse frei und denken über alternative Lösungen als Bodenarchiv für die Zukunft nach. Statt «History» ist so «Her/story» entstanden, eine kritische Revision der Geschichtsschreibung, festgehalten und archiviert in Form des fiktionalen «Tagebuchs der Archäologin Tina Paradiso». Dabei handelt es sich allerdings bloss um den Anfang, denn das Künstlerduo buddelt noch immer. Im Rahmen der Ausstellung «Bella ciao» machen sie diese endlose Buddelei nun zugänglich und bieten eine kontemplative Sitzgelegenheit, um sich in Tina Paradisos wilde Geschichte zu vertiefen.

Liebe Grüsse aus der Sperrzone!

Niemand hat wohl bislang die Atelierwohnung in der Via Latini in Rom so intensiv erlebt wie Klara Frick (*1991) und Ewald Frick (*1956). Sie sind für ihr dreimonatiges Atelierstipendium am 4. März 2020 nach Rom gereist. Wenig später wird über die Nation der Lockdown verhängt. Inmitten der Covid-19-Pandemie und zurückgeworfen auf ihre Existenz in der zweckmässig ausgestatteten Dreizimmerwohnung wurde ihnen der Zugang zu den vor der Haustür liegenden kulturellen Schätzen Roms verwehrt. Ihnen blieb als einzige Möglichkeit die Musse der Isolation und ein paar Streifzüge durch die italienische Sperrzone…

Geradezu poetisch wird in diesem Kontext, dass Klara Fricks Blick durch ein Fenster fällt. Mit Ölkreiden schafft sie dabei etwas Leichtes mit Tiefgang. Fern von Zuhause schenkt die in Rom entstandene Zeichnung einen Blick in ein Fenster der Basilika von Santa Maria Maggiore und bringt Sicherheit und Geborgenheit ganz nah. Die leere Freifläche des Colle Oppio und der eingemauerte Flusslauf des Tibers führen Ewald Frick ins Römische Reich. Er hat über «Agrippina, Nero, die römischen Kaiser, deren Porträtdarstellungen, über Geschichtsschreibung, Fake News, schräge Typen, Wohnsituation, Seuchen, den Preisen von Löwen für den Zirkus und den Untergang» nachgedacht. Daraus entstanden ist ein 364-seitiges Kompendium, das er nun anlässlich der Ausstellung vorlegt.

Doch nicht nur die seltenen Momente an der frischen Luft in den leeren Strassen Roms haben ihre Spuren hinterlassen. Wohl die intensivsten Momente entstanden in der Wohnung selbst. Entwickelte Ewald Frick die Keramikfliessen des Fussbodens im

Wohnzimmer assoziativ weiter und bringt somit das Fundament seiner Erlebnisse aus der Via dei Latini 18 an die Notkerstrasse 22 nach St.Gallen, sind Klara Fricks Tonobjekte fragmentierte Körperabdrücke, versteinert und verewigt im Augenblick des kreativen Prozesses. Es sind Überreste einer reinen Momentaufnahme, Relikte oder versteinerte Erinnerungen, moderne Fossilien oder künftige archäologische Fundstücke – also nicht nur das Vermächtnis römischer Handwerkskunst, sondern auch der Inbegriff des archäologischen Schatzes Roms.

Willkommen im Foyer der Gleichstellung

Eigentlich wollte Juliette Rosset (*1989) die Leerstellen und Lücken der überfüllten Grossstadt für sich einnehmen. Die Strassen Roms wurden jedoch so plötzlich leer, dass der im Sommer 2020 geplante Atelieraufenthalt verschoben werden musste. Stattdessen steht nun Juliette der leere Ausstellungssaal in der Kantonsbibliothek Vadiana zur Verfügung.

Doch weder der Ausstellungssaal noch die Bibliothek sind leer. Männer, in Stein gemeisselt oder in Form gegossen, kann man hier in Fülle entdecken. Denkmäler von Frauen sind dagegen keine vorhanden. Das Geschlecht der Geschichte ist männlich. Aber dies ist nur die halbe, männliche Wahrheit. Mit ihrer textilen Installation tritt Juliette Rosset dem entgegen, richtet ihren Fokus auf diese Leerstelle und setzt den unsichtbaren Frauen im Vorraum der Geschichtsschreibung ein Zeichen. Und um diesen Missstand drehen sich auch ihre weiteren Arbeiten. An der Drehschreibe sind eine Vielzahl unglasierter Tongefässe entstanden. Es sind kleine Figürchen, androgyne Wesen von unbestimmter Körperlichkeit, die als symbolisches Opfer dieser vorherrschenden männlichen Weltsicht dargebracht werden und in ihrer vollkommenen Einheit Männliches wie Weibliches, Vergangenes und Zukünftiges vereinen. Juliette Rosset dreht das Rad der Zeit in eine vielversprechende Zukunft weiter. Und mit der Prämisse, im Sommer 2022 ihren verschobenen Atelieraufenthalt in Rom anzutreten, dreht sie während der gesamten Ausstellungsdauer auch gleich die Uhr um zwei Jahre vorwärts.

Ort: Kantonsbibliothek Vadiana, Ausstellungssaal, Notkerstrasse 22, 9000 St.Gallen

Öffnungszeiten: 12. November bis 13. Dezember 2020, Do–Sa 13.00–18.00, So 13.00–16.00 und nach Vereinbarung

Weitere Informationen und Veranstaltungsprogramm auf dem Faltblatt zur Ausstellung und unter sg.ch/kultur